Institutsgeschichte
Die Auseinandersetzung mit der Fachgeschichte ist ein wesentlicher Teil des Selbstverständnisses des sogenannten Vielnamenfaches Europäische Ethnologie / Volkskunde /Empirische Kulturwissenschaft / Kulturanthropologie, das sich intensiv und kritisch mit der eigenen Vergangenheit auseinandersetzte (siehe anhängende Literaturliste). Auch Instituts-Namengebungen, die sich aus dem Standort, seinen Akteuren sowie strukturellen Rahmenbedingungen ergeben, haben diesbezüglich Signalwirkung: Im Jahr 2000 wurde das vormalige „Institut für Volkskunde“ an der Universität Wien in „Institut für Europäische Ethnologie“ umbenannt. Damit wurde die längst vollzogene paradigmatische und thematische Wende im Fach auch namentlich dokumentiert und die dezidierte Abkehr von der weltanschaulich und politisch geprägten Geschichte der akademischen Institutionalisierung des Faches in Wien bekundet, deren Beginn in das Jahr 1942 zurückreicht. Damals wurde – als eines von insgesamt neun unter der NS-Herrschaft gegründeten Universitätsinstituten – ein „Institut für germanisch-deutsche Volkskunde“ an der Universität Wien eingerichtet, mit dessen Leitung der Germanist und Skandinavist Richard Wolfram (1901–1995) betraut wurde. Wolfram – dessen 1936 verliehene Venia auf „Germanische Volkskunde und Neuskandinavistik“ lautete – hatte bereits Jahre davor in der „Forschungsgemeinschaft Deutsches Ahnenerbe e.V.“, einer von Heinrich Himmler 1935 gegründeten Forschungseinrichtung der SS, in führender Position gewirkt und war auch als Institutsleiter u.a. im Rahmen der Umsiedlungsaktionen in Folge des Hitler-Mussolini-Abkommens von 1939 in Südtirol tätig. Als Profiteurin des NS-Staates, was nicht zuletzt die Institutionalisierung des Faches in Wien bekundete, und zugleich treibende Ideologieproduzentin nationalsozialistischer Denkhorizonte verstetigte sich die Volkskunde zu einer völkisch argumentierenden, rassistischen und genozidale Dynamiken rechtfertigenden "braunen Wehrwissenschaft" (Wolfgang Kaschuba).
Nachdem das Institut 1945 aufgelöst und Wolfram von der Universität relegiert worden war, war das Fach Volkskunde an der Wiener Universität knapp zwei Jahrzehnte ohne institutionellen Rückhalt und nur durch die Lehrtätigkeit einzelner Fachvertreter – vor allem durch den späteren langjährigen Leiter des Österreichischen Museums für Volkskunde Leopold Schmidt (1912–1981) – im Rahmen anderer Curricula, v.a. der Germanistik, vertreten.
Eine Entnazifizierung erfolgte nicht. Im Gegenteil erlangte Wolfram im Zuge der bereits 1948 beginnenden Amnestie ehemaliger Nationalsozialisten – nicht zuletzt mit Unterstützung von weltanschaulichen Gesinnungsgenossen wie dem Germanisten Otto Höfler oder dem Völkerkundler Josef Haekel – 1954 die Venia legendi zurück und wurde 1959 zum Extraordinarius, 1963 zum Ordinarius und schließlich auch zum abermaligen Vorstand des 1961 neu etablierten „Instituts für Volkskunde“ ernannt. Die Wiedererrichtung des Instituts, von Wolfram beantragt, wurde von der zuständigen Fakultätskommission – in der ideologische Weggefährten Wolframs wie die Germanisten Otto Höfler, Eberhard Kranzmayer und Hans Rupprich oder der Theaterwissenschaftler Heinz Kindermann saßen – mit der Begründung beschlossen, dass nur mehr wenig Zeit verbliebe, den „Altbestand“ des „überlieferten Volkslebens“ zu erfassen. Konsequenterweise – und in Analogie zur allgemeinen gesellschaftspolitischen Entwicklung in der Konstituierungsphase der Zweiten Republik dem „Rückbruch“ (Ernst Hanisch) und restaurativen Regress auf die Vorkriegszeit folgend – prägte Wolfram die Volkskunde bzw. den Institutsbetrieb in Wien durch Betonung der von ihm bevorzugten (und weiterhin mythologisch ausgerichteten) Brauch-, Volksglaubens- und Tanzforschung. Dabei erlangte er mit der Einrichtung der Arbeitsstelle des unter der Patronage der „Österreichischen Akademie der Wissenschaften“ stehenden „Österreichischen Volkskundeatlas“ und durch seine Ernennung zum „wirklichen Mitglied“ der Akademie sogar zusätzliche Reputation.
Nach der Emeritierung Wolframs 1971 und während einer mehrjährigen Vakanz der Lehrkanzel (Interimsleitung durch Walter Hirschberg, ao. Univ. Prof. für Völkerkunde) wurden die organisatorischen und inhaltlichen Agenden des Instituts weitgehend von dem ersten (und bis 1971 einzigen) Assistenten Helmut P. Fielhauer (1937–1987) wahrgenommen. Fielhauer (1974 habilitiert, 1977 zum außerordentlichen Universitätsprofessor ernannt, von 1980 bis zu seinem Tod 1987 Institutsvorstand) war zwar bei Wolfram akademisch sozialisiert worden, stand aber im Weiteren immer mehr unter dem Eindruck der inhaltlichen Neuorientierung und v.a. sozialwissenschaftlichen Erweiterung des Faches, wie sie in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren vor allem von der Tübinger „Empirischen Kulturwissenschaft“ unter Leitung Hermann Bausingers angeregt wurde. Dazu gehörte nicht nur, dass die Volkskunde die Problemlagen der Gegenwart und die Lebensweisen breiter Bevölkerungsschichten in den Blick nahm, sondern sich auch kritisch mit ihrer eigenen Geschichte und politischen Verwobenheit auseinandersetzte, zentrale Begriffe und Perspektiven revidierte sowie ein neues Methodenverständnis entwickelte.
Diesem „Abschied vom Volksleben“, wie er in Tübingen ausgerufen wurde und ideologisch von einer Marxismusrezeption im Sinne der „Frankfurter Schule“ inspiriert war, schloss sich der 1974 neu berufene Ordinarius Károly Gaál (1922–2007) nur bedingt an. Unter ihm, der sich 1970 für „Volkskunde mit besonderer Berücksichtigung der vergleichenden Sach- und Sozialvolkskunde“ habilitiert hatte, verlagerte sich die inhaltliche Ausrichtung des Instituts – dem mit Edith Hörandner (seit 1968, 1985 Univ. Doz.) und Olaf Bockhorn (seit 1971, 1987 Univ. Doz.) zusätzliche wissenschaftliche Kräfte zu Verfügung standen – auf ortsmonographische Untersuchungen und ergologische Dokumentationen unter Berücksichtigung wirtschaftshistorischer Faktoren.
Nach der Emeritierung Gaáls 1992 und einer zweijährigen Vakanz wurde 1994 Konrad Köstlin (zuvor Professor in Kiel, Regensburg und Tübingen) zum Ordinarius ernannt. Mit ihm – der seinerzeitige Vorsitz der SIEF (Société Internationale d´Ethnologie et de Folklore) ist dafür nur ein äußeres Zeichen – wurde in Wien eine Sichtweise des Faches als einer „Ethnologia Europaea“ forciert, wie sie bereits 1975 offiziell als Zusatztitulatur des Instituts eingeführt wurde und sich auf der Grundlage der volkskundlichen Fachtradition als vergleichende Kulturwissenschaft in historischer und sozialer Dimension versteht.
Nachdem Konrad Köstlin 2008 emeritiert wurde, steht das Institut seit 2009 unter der Leitung von Brigitta Schmidt-Lauber (zuvor Professorin in Göttingen). In Lehre und Forschung präsentiert es sich im Sinne einer gegenwartsorientierten und historisch argumentierenden empirischen Alltagskulturwissenschaft anhand so unterschiedlicher Forschungsschwerpunkte wie der kulturwissenschaftlichen Stadtforschung und regionalen Kulturanalyse vorzugsweise im deutschsprachigen Raum, der Biographieforschung, Arbeitskulturen- und populärer Religiositätsforschung, human animal studies und Migrationsforschung. Daraus folgt auch, dass der Begriff des „Europäischen“ in der Fachbezeichnung nicht auf Zuständigkeiten und Kompetenzen für eine Kulturanalyse jedweder regionaler Kulturen im europäischen Raum zielt, sondern auf den Erfahrungs-, Deutungs- und Handlungsrahmen in der europäischen Moderne, in der lokale Alltagskulturen in überlokalen Zusammenhängen fokussiert werden; wie ja auch der Begriff des „Ethnischen“ nicht als Übersetzung und „Rettung“ des Volksbegriffs im Sinne eines national konnotierten Kulturkonzepts missverstanden werden darf. Unter dem Namen einer „Europäischen Ethnologie“ hat sich damit ein Programm an Arbeitsweisen, Denkmodellen und Fragestellungen etabliert, das sich der mikroanalytischen Betrachtung kultureller Prozesse und Phänomene in Geschichte und Gegenwart im gesellschaftlichen Nahraum verschrieben hat und dabei in relationaler Kulturanalyse das Eigene und das Fremde in ihrer reziproken Relation zum Gegenstand der Untersuchungen macht.
Durch zahlreiche Kooperationen innerhalb und außerhalb der Fakultät und Universität ist das Institut interdisziplinär und international breit verankert. So wurde 2010 das jährlich stattfindende Vernetzungstreffen aller österreichischen Universitätsinstitute des Faches initiiert sowie 2011 ein ebenfalls jährlich zusammentreffendes „Netzwerk kulturwissenschaftliche Stadtforschung“. Auch die dichte Kooperation mit verschiedenen Museen in Wien zählt zu den Anliegen des Instituts. Zuletzt erfolgte zudem eine wesentliche Erweiterung des Instituts, das 2018 eine 2. Professur erhält. Die Denominationen der neuen Professur lautet „Historische Dimensionierung von Alltagskulturen“, wohingegen die bestehende Professur hinkünftig als „Ethnographische Dimensionierung von Alltagskulturen“ ausgeschrieben werden wird. Damit hat das Institut seine Position als historisch argumentierende, gegenwartsorientierte Alltagskulturwissenschaft nochmals unterstrichen.
Im September 2018 hat Alexa Färber die Professur für Historische Dimensionierung von Alltagskulturen angetreten und ist seit dem Wintersemester 2023/24 Institutsvorständin. Diese Position wird nun im Zweijahrestakt zwischen den Professuren rotieren.
Literaturhinweise
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