Lesen

Europäische Ethnologie befasst sich aus wissenschaftlicher Perspektive mit Alltagspraktiken, die uns oft als so selbstverständlich erscheinen, dass wir sie nicht hinterfragen. Ähnlich verhält es sich mit dem Lesen und auch mit dem Schreiben. Die meisten von uns praktizieren beides täglich in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen: Wir lesen Zeitung, Romane, Blogs, aber auch Notizzettel und Posts auf Social Media. Wir schreiben Einkaufslisten, Emails, SMS-Nachrichten, Klausuren und vielleicht auch Tagebuch. All diese Lese- und Schreibsituationen verlangen nach ganz unterschiedlichen Lese- und Schreibtechniken und -stilen, die wir als Expert:innen unseres Alltags ganz mühelos und ohne großes Nachdenken anwenden können. So scannen wir Beiträge in sozialen Netzwerken schnell und souverän auf dem Display unserer Smartphones, überfliegen interessant erscheinende Zeitungsartikel nebenbei beim Frühstück oder studieren Texte, die für eine Klausur relevant sind, sehr konzentriert. Beim Schreiben reicht unser Register vom Kritzeln auf dem Notizblock, über das Verfassen der Grußkarte in Schönschrift bis hin zum Feilen an Formulierungen für eine Proseminar-/Seminararbeit.

Auch wissenschaftliches Arbeiten verlangt nach unterschiedlichen Lese- und Schreibtechniken, die Studienanfänger:innen jedoch häufig noch nicht vertraut sind. Es ist keinesfalls so, dass in akademischen Zusammenhängen nur hochkonzentrierte Lektüre und druckreifes Schreiben von Wert wären. Im Gegenteil: Lesen und Schreiben gehören zum akademischen Alltag, beides ist Handwerkszeug von Wissenschaftler:innen und Studierenden. Der Drang nach Perfektion kann verunsichern. Gerade, weil Lesen und Schreiben zweifelsohne Kernkompetenzen des Studiums sind, muss dieses Handwerk stetig angewandt und verbessert werden. Es gibt viele Ratgeber, die sich mit diesem Thema befassen.

Auf drei zentrale Aspekte, die sowohl auf ,innere Haltungen’ abzielen als auch konkrete Schreib- und Lesetipps umfassen und die uns gerade für den Beginn eines Studiums wichtig erscheinen, möchten wir hier eingehen

 

1.      Keep calm and read on

Zu Beginn des Studiums sehen sich Studierende mit einer Vielzahl an neuen, unbekannten Textsorten konfrontiert (—> Kapitel „Recherchieren und Bibliographieren“). Die Themen sind noch fremd, Argumentationslinien erscheinen undurchsichtig, die Sprache wirkt (unnötig) kompliziert. Das kann schnell ein Gefühl der Überforderung hervorrufen oder gar die Befürchtung, das falsche Studienfach gewählt zu haben. Dabei ist es durchaus üblich, einen Text nicht gleich beim ersten Lesen zu verstehen. Oft benötigt es zwei, drei oder mehr Durchgänge. Nicht selten vergehen sogar einige Semester, bis sich ein Text dem:der Leser:in ganz erschließt – dann, wenn er eingebettet in ein Netz aus neugewonnenem Wissen, plötzlich in ganz neuem Licht erscheint. Gleiches gilt für die (scheinbar komplizierte) Sprache. Viele Berufsgruppen haben ein eigenes Fachvokabular, das sich Laien nicht unmittelbar erschließt. Dasselbe trifft auf wissenschaftliche Disziplinen zu. Auch hier haben sich Begriffe, Formulierungen und Stile etabliert, die zunächst fremd erscheinen und von Studienanfänger:innen nach und nach erschlossen werden müssen. So wie das Schreiben, das der japanische Schriftsteller und leidenschaftliche Läufer Haruki Murakami mit einem Marathonlauf vergleicht, benötigt also auch das Lesen wissenschaftlicher Texte Training, Durchhaltevermögen und Geduld. Doch es lohnt sich, Durst-Strecken und Frustrationen zu überwinden

 

2.      Schritt für Schritt

Selbst der längste Lauf ist nur Schritt für Schritt zu bewältigen. Gleiches gilt für komplexe oder lange Texte. Es ist ratsam, sich nicht am ersten Absatz oder dem ersten unbekannten Begriff eines schwierigen Textes festzubeißen, und angesichts der noch zu bewältigenden Strecke, frustriert zu kapitulieren. Es hilft, sich zunächst mit der Struktur des Textes vertraut zu machen. Bei Monografien gibt das Inhaltsverzeichnis erste Aufschlüsse über den Aufbau und den Verlauf der Argumentation. Ein Blick in die Einleitung informiert über Thema, Fragestellungen, Ziele und den Aufbau des Textes. Im Schluss werden in aller Regel die zentralen Forschungsergebnisse zusammengeführt. Ähnliches wie der Schluss leisten oftmals finale Absätze in Kapiteln. Artikel in Journals sind oft Abstracts vorangestellt, die knapp über den Inhalt des Textes informieren. Außerdem können Aufsätze und Buchkapitel erst einmal überflogen werden, bevor man mit der Lektüre beginnt. Wie lang ist der Text? Welche Zwischenüberschriften gibt es? Welche Teile interessieren mich? Welche Begriffe stechen hervor

 

3.      Was will ich von dem Text?

Es hilft mit einer oder mehreren Fragen an den Text heranzutreten. Anders als belletristische Texte, die darauf angelegt sind, von vorne bis hinten durchgelesen zu werden, können wissenschaftliche Texte selektiver erschlossen werden. Was will ich von einem Text also erfahren? Die Antwort darauf hängt unter anderem davon ab, ob ein Text für ein Seminar durchgearbeitet werden soll, die Lektüre dazu dient, einen Überblick über ein Themenfeld zu gewinnen, oder Literatur auf einen spezifischen Aspekt hin gelesen wird, beispielsweise um auf dieser Grundlage eine Argumentation in einer Seminararbeit zu entwickeln. Geht es in den ersten beiden Fällen eher darum, zentrale Begriffe und Thesen herauszuarbeiten und Referenzen nachzuvollziehen, auf die sich der:die Autor:in bezieht, kann es für andere Zwecke genügen, lediglich ein Kapitel oder einzelne Absätze zu fokussieren. Abhängig vom Vorwissen, der Intention und der Forschungsfrage kann Lektüre also fragmentarisch ausfallen.

(Christian Elster)

 

Weiterführende Literatur:

Luhmann, Miklas (2008): Lesen lernen. In: Nils Werber (Hrsg.), Schriften zu Kunst und Literatur. S. 9-13. Suhrkamp Verlag.

—>Ein kurzer Essay übers Lesen.

Friedrich Rost: Wissenschaftliche Texte lesen und verstehen. In: Norbert Franck, Joachim Stary (Hg.): Die Technik des wissenschaftlichen Arbeitens, Paderborn 122006, S. 75-96.

—> konkrete Anleitung zum Lesen wissenschaftlicher Texte, die hilfreiche Tipps beinhaltet, aber nicht zu dogmatisch verstanden werden sollte – ihr könnt auch andere Strategien entwickeln